Über elterliches jain, die Halbwertszeit von Vorsätzen und den Schwellenwert von Hilferufen

Veröffentlicht von leitmedium am

jain!

Ob er die Wurzel mit nach Hause nehmen könne, fragt er und streckt uns mit matschigen Händen einen haarigen Klumpen Erde entgegen. Gleichzeitig antworten wir erfahrenen Eltern einstimmig mit »ja!« … und »nein!«. Kurz ist Stille. Das ist einer dieser Momente, an dem wir an einem wichtigen Wegpunkt unserer Elternschaft stehen, denke ich. Jetzt bloß nicht Widersprüche zeigen, sonst nehmen sie uns nie wieder ernst. »… aber ein kleines Stück natürlich schon«, schiebe ich schnell nach, weil mir die blöde Wurzel ja eigentlich egal ist – und lege den »Aber ich mache das dann nicht sauber.«-Blick auf. Situation gerettet. Und ich bin theoretisch für die nächsten vierundzwanzig Stunden von der Beseitigung aller Matsch-Flecken zu Hause befreit, weil ich ja eigentlich »nein« gesagt habe. Denn darum geht es ja auch beim Kinderhaben: Vorab klarstellen, dass man später dann aber wirklich nicht schuld ist.

tschja.

Eigentlich bin ich ja per Verabredung immer schuld und in letzter Zeit gab es tatsächlich das ein oder andere Schimpfwort, was vielleicht auf meine Kappe geht, bzw. darauf, dass ich die Hiphop-Lieder nicht ganz durchhöre, bevor ich sie laufen lasse und die Kinder natürlich jedes Wort wie ein Schwamm aufsaugen – und an passend unpassender, um nicht „verfickten“ zu sagen, Stelle wieder von sich zu geben. Aber jetzt habe ich wieder für zwei Wochen eine allgemeine Schuld-Befreiung, denn ich war bei einer Radtour auf Hörweite neben dem Lastenrad, auf dem fraumierau den Kindern im Eifer des Gefechts abwiegelnd erklärte, das Kinder den Mittelfinger nicht zeigen dürften, Erwachsene aber schon, wenn sie eben nicht anders kommunizieren könnten und das sei ja auch nichts anderes eigentlich als Babyzeichensprache. Das würde jetzt vielleicht komisch klingen, sei aber durchaus logisch und sie würden das zu gegebenem Zeitpunkt schon verstehen. Als sie sich nach diesen Worten leicht schuldbewusst in meine Richtung umdrehte, legte ich nur den „tschja!“-Blick auf und wenn die Kinder jetzt Slang reden, lenke ich das Gespräch einfach ganz unschuldig auf den allgemeinen Umgang im Straßenverkehr.

Halbwertszeit von Vorsätzen

Manchmal denke ich ja noch drüber nach, wie kontrolliert das mit den guten Vorsätzen mit einem Kind ablief. Aber gute Vorsätze haben eine Halbwertszeit von exakt anderthalb Kindern. (Dieser Satz ist physikalisch übrigens unsinnig und rein rechnerisch müsste da eher „dreiviertel Kind“ stehen, aber das versteht dann wieder niemand und ich wollte an dieser Stelle nur kurz mein Nerd-Herz erleichtern, damit nicht wieder irgend ein Besserwisser (Ja, in der Regel männlich.) unnötig seine Atemluft (Ja, auch wenn er tippt.) in den Kommentaren vergeudet). Dabei haben wir ja ganz viele gute Vorsätze zur Zeit und die Kinder fordern natürlich ihren Anteil ein, vor allem was die Teilnahme an Umweltdemos angeht. Die Wahrnehmung der Problematik und deren Lösung ist natürlich verschieden. Nach der großen Fridays for Future Demo erklärte ein Kind, dass es schon schön wäre, wenn die Leute das singen vorher üben würden, das könne man ja nicht aushalten, während das Kleinste stolz verkündete, dass wir auf der Umweltverschmutzung gewesen seien und da war es zwar laut, aber wir hätten dort die Welt wieder ganz gemacht. Und jetzt bin ich ein bisschen neidisch auf so viel Zukunftsoptimismus.

Hilfe!

Dabei läuft zu Hause natürlich nicht alles so optimistisch. Zum Beispiel wenn das Kind, das sehr oft »Hilfe!« ruft, markerschütternd aus dem Bad »Hilfe!« ruft und man schon so ein bisschen hilferuferfahrend aus dem Nebenraum nachfragt, was denn los sei, während man überlegt, was die Nachbarn eigentlich so denken, und man mit leichtem Vorwurf in der Stimme aus dem Bad zurückgefragt wird, ob man denn nicht wissen, was »Hilfe!« bedeuten würde. Es würde nämlich heißen, man solle jetzt kommen. Sofort. Er könne das gern noch einmal genau erklären. Vor Ort stellt sich als offenbar akzeptabler Schwellenwert für ein laut gerufenes »Hilfe!« fehlendes Toilettenpapier heraus. Wir arbeiten nun gemeinsam an einer etwas gesellschaftstauglicheren Abstufung für Notrufe.

Mitleid

Meine laute Beschwerde letztens, als ich mir mal wieder am Kinderstuhl am Esstisch den kleinen Zeh gestoßen habe, ging auch eher unter. Das kann ich auch nicht verdenken, denn ich stoße mir sehr oft den Fuß an diesem … wirklich unsagbar hinterhältigen Möbelstück. Doch ein paar Tage später wies mich die ganze Familie auf meinen offenbar abstoßenden blauen Zeh hin. Ich gucke ja in der Regel nicht nach unten. Meine Erklärung, dass ich ihn mir wohl mal wieder gebrochen hätte, hat nicht so viel Mitleid erregt, wie erhofft. Nachdem mich vorige Woche eine Lehrerin auf dem Schulhof mit leicht besorgtem Blick gefragt hat, ob es mir nach meinem Badewannenunfall wieder besser ginge, sie hätte von den Kindern davon erfahren, die leicht kichernd davon berichtet haben, konnte ich feststellen: Zu Hause nutzen sich die Unfälle vielleicht ab, aber ich hole mir den Trost jetzt einfach in der Schule.


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Kategorien: Montagspost

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