Über eine kaputte ISS, immer wieder LEGO, Super-Mario-Stunts und die Nicht-Anonymität des Landlebens
ISS in Gefahr
Bssssst. Während ich im Büro sitze(1) und telefoniere, vibriert mein Telefon. Ich versuche, unbemerkt die Nachricht zu lesen. »Papa!«, steht da. Digitale Kommunikation mit Kindern ist ja immer so eine Sache. Ist das jetzt wichtig? Muss ich sofort noch nach Hause? Nein, denke ich, nein, dann würde fraumierau sich melden. Bsssst. »Papa!!«. Ich lasse mich im Telefonat nicht beirren. Eine Frau, die eigentlich lieber mit fraumierau telefonieren würde, sich aber nicht traut, erklärt mir, wie wichtig ihr ihre Bücher sind und dass sie aber auch mit mir sprechen wolle, ich solle sie da nicht falsch verstehen, aber die Bücher von fraumierau seien wirklich sehr aufwühlend, aber ich sei auch ein angenehmer Gesprächspartner, wirklich. Langsam werde ich unruhig. Bsssst. »Papa! Papa! Die ISS geht kaputt!« Oh nein, denke ich. Unser Nerd-Kind hat wieder das Nachrichten-Widget vom Smartphone genutzt und irgendeine Überschrift gelesen und jetzt gruselt es sich, weil die Internationale Raumstation kaputt geht. Mit einer abstürzenden ISS vor Augen google ich neben dem Telefonat, zu dessen Beendigung ich zu freundlich bin, nach dem ISS-Status. So richtig Neuigkeiten gibt es nicht. Nur die Boulevardpresse lästert über „die Russen“ und ihre undichten Stellen im Raummodul. Etwas erleichtert bereite ich einen Monolog vor, in dem ich erkläre, wie undichte Stellen gesucht und abgedichtet werden, dass das gar nicht so unüblich sei und dass die Boulevardpresse gern übertreibt. Bssst. »Papa, das kann man nie wieder reparieren! Es ist so traurig!«. Ich beende das Telefonat und erkläre, dass es einen familiären Zwischenfall gibt. fraumierau schreibe ich, ob sie über ISS-Zwischenfall Bescheid wisse. Ja, antwortet sie, es sei wirklich kompliziert, aber wir würden das schon durchstehen. Fünf Minuten später komme ich zu Hause an, reiße die Tür auf und beginne mit »Also das sind Luftlöcher auf der ISS, aber das ist nicht so schlimm, weil…«. Irritiert sehen mich vier Augenpaare an. Was ich genau meine, werde ich gefragt. Na das Problem mit der Raumstation? Das sei schon geklärt. Der fehlende Baustein hätte unterm Schrank gelegen und jetzt stehe sie wieder fest auf ihrem Sockel. LEGO, denke ich. LEGO. Es ging die ganze Zeit um Scheiß LEGO.
Flopp
Dabei hätte ich es ja wissen können, denn LEGO ist regelmäßig für Spannungsanstieg zuständig. Während wir Eltern in der Pandemie eigentlich alles tun, um den Besuch ärztlicher Praxen und Notaufnahmen zu vermeiden, verfolgen die Kinder einen Geheimplan, doch mal rauszukommen. Nachdem das kleinste Kind sich auffällig in der Nase bohrt und beim Atmen pfeifende Geräusche macht, frage ich nach, ob es vielleicht etwas in der Nase habe. Naja, nein. Nicht wirklich. Nur ein bisschen. Vielleicht. Ich rolle innerlich mit den Augen, weil ich dachte, dass dieses Familienklischee an uns vorübergeht. Nicht drin Rumbohren, erinnere ich mich aus dem Erste-Hilfe-Kurs für Eltern, den wir vor mehr als einem Jahrzehnt (Man, ist das lang her!) gemacht haben. Auf keinen Fall versuchen, es irgendwie rauszuholen. Was denn in der Nase stecke, frage ich. Keine Ahnung. Ich bewundere ja, wie Kinder schulterzuckend die Realität von sich wegschieben können. Jedenfalls steigt mein Puls leicht bei dem Gedanken, jetzt am Sonntag mit FFP2-Masken in der Notaufnahme zu sitzen, um etwas aus einer Nase holen zu lassen. Bitte mal durch den Mund einatmen, ein Nasenloch zuhalten und pusten, leite ich an. Flopp. In hohem Bogen fliegt ein roter LEGO-Stein über den Esstisch. Echt jetzt?, denke ich. Echt jetzt?, ein LEGO-Stein. Offenbar spielen wir den Erste-Hilfe-Kurs nach. Wie der Stein denn in die Nase gekommen sei, frage ich. Achso der, erklärt das Kind. Der sei letztens in die Nase gefallen. Könne doch mal passieren. Ich stelle mir vor, in welcher Lage man sich befinden muss, damit ein LEGO-Stein in die Nase fällt, beschließe aber, die Diskussion nicht weiterzuführen.
Radfahren auf dem Land
Dabei trägt die gleiche Nase noch ein paar Schürfspuren. Wir waren ein paar Tage vorher mit den Rädern auf dem Land unterwegs. Das klingt romantischer, als es ist. In meiner Vorstellung düst man auf dem Land mit wallendem Haar zwischen den Bäumen, hört die rauschenden Blätter und blickt über weite Felder. In der Realität wird man durch Kopfsteinpflaster malträtiert oder fährt auf Dorf- oder Landstraßen und versucht dabei, nicht von einem Traktor oder LKW überrollt zu werden. Immerhin gilt „auf dem Fußweg fahren“ hier als sozial akzeptiert, was wenig verwundert, da ja eh niemand Gehweg zu sehen ist. Die Fahrradwegdiskussion ist hier offenbar noch nicht angekommen und wer weiß, ob es sie wird. Wobei die ersten Fahrten mit dem Elektro-Lastenrad lustig waren, denn so etwas gibt es hier bisher noch nicht. Und wenn man dann mit Kindern im Lastenrad die Dorfstraße Richtung Supermarkt in der Nachbarstadt fährt, hält man sehr oft, um viele Fragen zu beantworten. Was ja auch charmant ist, denn hier spricht man miteinander. Also charmant, wenn man es gewohnt ist, ständig mit anderen Menschen zu sprechen.
Physik, nur in echt
Jedenfalls, wir waren bei der Nase, fahren wir alle mit dem Rad durchs Dorf, als plötzlich das kleinste Kind den Lenker rumreißt und in hohem Bogen auf die Straße fällt. Es gibt leichte Blessuren, aber es ist das „Macht doch nichts!“-Kind, das uns regelmäßig an den schwarzen Ritter von Monty Python erinnert und uns manchmal ratlos zurücklässt, wenn es statt Trost einfach die nächste Gefahr sucht. Aber warum es denn den Lenker rumgerissen hätte, frage ich ganz achtsam. Sei da etwas Erschreckendes gewesen? Ich lege mein extra zugewandt-besorgtes Gesicht auf. Nein, erklärt es, es hätte bei den Geschwistern bei Super Mario Kart zugesehen und auch mal so einen Stunt mit dem Rad in der Luft probieren wollen. Ok, denke ich. Vielleicht hatten Manfred S. und die Waldorfies ja doch Recht und Videospiele sind einfach gefährlich. Ich versuche, noch einmal den Unterschied zwischen Physik in Videospielen und der nichtvirtuellen Realität zu erklären, blicke dabei aber in ein mäßig interessiertes Gesicht und beschließe, bei der nächsten Radfahrt einfach Pflaster mitzunehmen.
p.s.:
(1) Pandemiestatus: Familie Mierau hat zu Beginn der Pandemie die Stadt Richtung Landhaus verlassen.(2) Herr Mierau wurde nach einigen Monaten vier zu eins überstimmt, dort zu bleiben, also wurde die Wohnung in Berlin aufgelöst. Da das eigentlich als Wochenendhaus konzipierte Haus zu klein ist und man ja auch ein bisschen durchdreht, wenn man zu Hause arbeitet, während die Kinder da sind und ihr ganz eigenes Homeoffice mit Arbeitsheften und Zoomkonferenzen machen müssen, wurde in Fußweite ein kleines Büro angemietet. So gut das mit ungeraden sieben Tagen die Woche möglich ist, teilen sich fraumierau und leitmedium die Wochentage – inklusive Wochenende – als Arbeitstage und die Abende als Arbeitsabende untereinander auf – mit möglichst gleichen Anteilen von Care- und Erwerbsarbeitszeit. Wer gerade erwerbsarbeitet, ist im Büro. Ursprünglich gab es ja mal die romantische Idee, dort gemeinsam zu arbeiten irgendwann, aber nunja.
(2) Das wiederum birgt ein Schreibproblem. Wie der geneigten Leserin (im generischen Femininum) aufgefallen sein mag, ist aus der wöchentlichen Veröffentlichung eine eher jährliche geworden. Dies liegt nicht daran, dass hier weniger passiert oder keine Lust zu schreiben besteht, sondern vielmehr an dem Wechsel von der Anonymität der Großstadt in die Nähe des Landlebens. Während man in der Großstadt über den Supermarktbesuch schreiben kann, ohne dass sich jemand auf den Fuß getreten fühlt, ist das auf dem Land kaum möglich, denn hier kennt wirklich jede_r jede_n und das Aufschreiben soll ja niemanden verletzen. Und so werden die Geschichten gesammelt und mal sehen, was damit passiert. Und ja, ich weiß, dass Juli Zeh ein Buch geschrieben hat. Jedenfalls müssen die vielen wirklich kurzweiligen Anekdoten eben noch ein wenig ihre Halbwertzeit abwarten.
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Die zu wenigen Texte hier kompensiere ich übrigens durch zu viele Instastories, in denen kleine Anekdoten landen, die es nicht in Texte schaffen.
In der aktuellen Folge MKL reden Patricia und ich über das Thema Vereinbarkeit im Job, davor haben wir über Kinderfilme gesprochen.
2 Kommentare
Räubertochter · 2. März 2021 um 10:05
Schön mal wieder hier von dir zu lesen! Beim legostein konnte ich mit ein Kichern nicht verkneifen.hatte dann allerdings einige Blicke auf mich gerichtet.sitze im Wartezimmer.trotzdem bin ich für jede fröhliche Stimmung dankbar.
Landfamilie · 5. März 2021 um 0:21
Landleben! Feel you.
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