Sieben Jahre Stilldemenz?
»Komm zurück, der Termin ist doch erst morgen«. Ich knirsche ganz kurz so laut mit den Zähnen, dass die Kinder fragen, was das für ein Geräusch war. Wir sitzen im Auto und haben sie gerade bei der Frauenärztin abgesetzt. Es war einer dieser komplizierten Termine: Ich musste Urlaub nehmen, wir mussten mit dem Auto durch die halbe Stadt. Weil wir spät kamen, ist sie schnell ohne uns in die Praxis geeilt. Ich sammle sie mit dem Auto wieder ein und sie legt ihren »Na da kann ich ja nichts für«-Blick auf.
Stille. »Na, da kann ich ja nichts für!« sagt sie. Ich schweige. »Bestimmt haben die mir einen falschen Termin genannt!« Ich konzentriere mich auf die Fahrt. »Warte, ich seh’ mal nach!«. Ich ahne, was jetzt kommt. Sie raschelt mit Papier, stockt. »Oh. Also… Hmm. Das habe ich irgendwie anders in Erinnerung«.
Wir fahren weiter. Ich muss kichern. »Weißt Du, früher warst Du die ordentlichste und pünktlichste Person, die ich kenne. Und jetzt klappt kein einziger Termin mehr. Aber das ist auch lustig«. Die Kinder kichern von hinten vor sich hin. Sie legt ihre Protest-Mine auf. »Moment mal, sowas ist mir noch nie passiert. Kein einziges Mal!«
Ich überlege kurz, ob ich das jetzt so stehen lasse. Nein. »Weißt Du noch, wie wir an einem *Sonntag* vor einer angeblichen Kita-Besichtigung standen und Du Dich gewundert hast, weil alles so leer ist?«, frage ich. »Aber … Das war doch… Na, ok. Aber sonst?« entgegnet sie.
»Oder als wir mit einer Geburtstagstorte mit Datum drauf einen Tag zu früh zu einem Kindergeburtstag gingen?« Sie kneift die Augen zusammen. Ich entschließe mich, keine weiteren Beispiele zu bringen. Es ist auch eher unterhaltsam. Seit zehn Jahren sind wir ein Paar. Sie irritierte mich anfangs mit ihrer Ordnung. Als wir zusammenzogen, sortierte sie ungefragt meine T-Shirts in zwei Stapel: einfarbig und bedruckt. Ich verstehe bis heute die Unterscheidung nicht, aber sie hatte ihre Logik. Wenn ich etwas nicht vergessen wollte, sagte ich es ihr. Für alles gab es Kärtchen, Boxen, Aufkleber und Pläne.
Jetzt gibt es für alles vor allem Humor. Seit der ersten Schwangerschaft klappt es mit der Planung einfach nicht mehr. »Stilldemenz« hieß es damals noch. Lebertran würde helfen, meinte unsere Hebamme. Nein, das wolle sie nicht, antwortete sie. »Dochdoch, das wird toll!«, versicherte ich und, unwissend, wie ich war, habe ich aus Nächstenliebe und »geteiltes Leid ist halbes Leid« die große 1l-Flasche bestellt und mitgemacht. Ich habe dabei zwei Dinge gelernt: erstens: TRINKT KEINEN LEBERTRAN. NIEMALS. IHR WERDET DEN REST EURES LEBENS VON INNEN HERAUS NACH FISCH RIECHEN. Und zweitens: Es gibt Lebertran in Kapseln. Das wird einem natürlich erst danach gesagt.
Aber nun ist sie zum dritten Mal schwanger. Und abgesehen von der Frage, ob es Stilldemenz überhaupt gibt, steht fest: Es kann keine sein, denn sie stillt nicht seit sieben Jahren. Es ist vielmehr Stress und Schlafentzug, der ihr zu schaffen macht. Und den hat sie durch unsere Kinder. Noch mehr als ich. Und nicht nur darum liebe ich sie auch für ihr Chaos. Letztes Jahr hat sie stolz verkündet, jetzt von ihrem gekonnt ignorierten Google Kalender auf einen Papier-Kalender umzusteigen. Sie konnte mir nicht erklären, was daran nun besser sein soll, ist aber so glücklich mit ihrem schön aussehenden aber fast nie korrekt beschriebenem Kalender, dass ich mich zumindest über ihre Freude freue.
Epilog: Zwei Tage später sitzen wir abends zu Hause und schreiben an irgendwelchen Texten. Plötzlich sieht sie mich an: »Morgen ist der Zahnarzttermin vom Sohn!«. Ich bin etwas irritiert. »Bei mir steht nichts im Kalender«, antworte ich. »AHA!« entgegnet sie Stolz. »Moment, der Termin ist übermorgen, sagt mein Kalender« füge ich zu. Sie sieht mich an und schweigt. Ich gebe ihr einen Kuss.
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3 Kommentare
Tanja · 3. September 2015 um 22:05
Ich musste herzlich lachen. Wir nehmen es hier auch mit Humor. 😉
Lotzerich Jankowitsch · 12. Mai 2017 um 13:45
Verrückt.. ich glaube ich habe schon mein Leben lang Stilldemenz.. wie macht das meine Frau nur?!? Sie hat mir drei Kinder zusammengebaut und geboren, und ja sie hat definitiv Schwangerschafts- und Stilldemenz gehabt. doch irgendwie hab ich da mitgemacht – nur hat alleine sie die Demenz wieder abgelegt…
"Ein guter Plan" für 2016 - Verlosung meines Lieblingskalenders - Geborgen Wachsen · 24. Dezember 2015 um 8:24
[…] geblieben, die sich über alle Jahre hinweg nicht verändert hat. Ich liebe Kalender in Papierform. Mein Mann belächelt diesen Umstand oft und ist nicht so ganz von meiner Zettelwirtschaft und meinen kleinen Notizen in schön aussehenden […]
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