Wir waren auch Helikopter-Eltern

Veröffentlicht von leitmedium am

Zur Zeit sehe ich wieder verstärkt Artikel über Helikopter-Eltern. Vielleicht liegt es ja nur an meinem Medienkonsum, aber ich behaupte mal, das ist ein Thema, das einfach gut funktioniert: Kann man lustig verpacken, ein bisschen lästern und die übliche Prise Prenzlberg-Eltern-Bashing ist auch mit drin. Ich möchte daher die Gelegenheit nutzen und hiermit ganz offiziell zu Protokoll geben: Die fraumierau und ich – wir waren auch einmal Helikopter-Eltern. Nach ein paar Beispielen, die sogleich folgen, möchte ich noch ein paar Überlegungen anstellen, warum die Eltern denn eigentlich so helikoptern. Und ob das überhaupt etwas ist, über man das sich so aufregen muss. Aber fangen wir an mit fraumierau und mir:

Helikotper 1: Die Nahrungsmittel-Liste

Schon vor der Geburt haben wir losgehelikoptert. Schließlich kann eine Schwangere durch eine Lebensmittelinfektion mit Listeriose oder Toxoplasmose dem ungeborenen Kind schaden. Von der Ärztin hatten wir eine Liste gefährlicher Lebensmittel bekommen. Diese wurde als Liste strikt verbotener Lebensmittel wie die 95 Thesen an den Kühlschrank angeschlagen.

Die entsprechenden Lebensmittel zu meiden, ist teilweise gar nicht so einfach. Monatelang verbrachte ich viel Zeit damit, im Supermarkt nachzulesen, ob eine Käsesorte nun aus Rohmilch hergestellt wurde oder nicht. Am Tag nach der Geburt bin ich in den Supermarkt gegangen und habe zur sofortigen Kompensation gekauft: Zwiebelmettwurst (verboten) und Sushi (verboten) und Käsesorten quer durch die Bank.

Aber auch nach der Geburt kann man bei Lebensmitteln weiterhin aufpassen: Zum Beispiel kann Honig bei Säuglingen Botulismus auslösen. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, warum und wie man einem Säugling unbedingt Honig zuführen möchte, aber Angst vor einem gesüßten Tee haben kann man immer.

Helikopter 2: Sicht- und Geräuschschutz

Noch im Wochenbett wollten wir eigentlich wieder mal Tatort gucken. Das war ein sehr festes Ritual. Aber Fernsehtöne und das Licht sind einem Neugeborenen natürlich nicht zuzumuten! Also bauten wir aus Matratzen eine Art Wand, hinter die sich fraumierau, das Baby stillend, setzte und drüber gucken konnte: Auf den Fernseher, der den Tatort mit Untertiteln zeigte. Überhaupt haben wir einen riesigen Buhei darum gemacht, bloß nicht zu laute Geräusche zu produzieren. Das Kind könnte ja aufwachen. Ach und nebenbei: Vielleicht doch mal die Stromkabel aus der Nähe des Bettes entfernen? Die Strahlung…

Helikopter 3: Atmet es noch? Atmet es noch?

Damoklesschwert plötzlicher Kindstod. Immer wieder liest man davon und hat Angst davor. So richtig ergründet sei er noch nicht und in den ersten zwölf Monaten kann es passieren. Nicht zu sehr zudecken! Auf gute Belüftung achten! Temperatur im Zimmer sollte stimmen! Und immer wieder der prüfende Blick: Hebt sich noch der Brustkorb? Atmet es noch?

Helikopter 4: Spezialprodukte

Was haben wir alles gekauft: Babybadethermometer, das genau anzeigt, wann Baby sich wohlfühlt? Check! Babybadeeimer, in dem Baby sich wohlfühlt beim Baden? Check! Wärmelampe? Check!  Das Babybadethermometer hat genervt, weil es immer so langsam gemessen hat. Der Badeeimer wurde vom Baby leicht gehasst, war aber super für die nächsten Jahre als Kotzeimer geeignet. Die Wärmelampe konnten wir nicht anbringen, weil der Wickeltisch im Bad war und in der Anleitung stand, dass dann alle an Stromschlag sterben.

Ich könnte diese Liste noch lang weiterführen. Was haben wir alles gemacht, was uns heute, als Eltern von drei Kindern, absurd und auch lustig erscheint. Aber ich mache uns keinen Vorwurf daraus. Es ist nicht lächerlich gewesen. Es war einfach die Angst junger Eltern. Menschen, die plötzlich die Aufgabe haben, ein Menschenleben sicher zu begleiten.

Ich halte es nicht für lächerlich, dass sich Eltern Sorgen um ihre Kinder machen. Sie wollen nun mal das Beste für ihre Kinder und man muss nicht Evolutionsbiologe sein, um zu erkennen: Das klingt auch nicht ganz unnormal. Aber ja, es nimmt Formen an, die absurd wirken. Doch statt drüber zu lästern und mit dem Finger auf diese Eltern zu zeigen, können wir uns ja die Frage stellen, warum das Phänomen präsenter als früher schein?

 

Ich habe drei Punkte ausgemacht, die wahrscheinlich dazu beitragen, dass Eltern verstärkt überreagieren, wenn es um das Wohl ihrer Kinder geht. Diese Punkte sind sicher nicht vollständig und vielleicht sehe ich auch den ein oder anderen falsch, aber ich denke, es zeigt, dass man Strukturen freilegen kann, die außerhalb der Eltern auf gesellschaftlicher Ebene zu finden sind und über die es sich zu diskutieren lohnt:

Statistiken

These 1: Eltern werden heute mit mehr Statistiken über mögliche Gefahren als früher konfrontiert. Da Zahlen schwer vorstellbar sind, führt dies zu einem verstärkten Angsthandeln.

Statistiken sind sehr mächtige Werkzeuge. Mal mehr, mal weniger wissenschaftlich und repräsentativ können Tendenzen und vor allem Gefahren ausgemacht werden. So und so viele Kinder sterben jährlich an diesem und jenem. Das ist wirklich schlimm. Ein Kind, das stirbt – man kann es sich kaum vorstellen., was das mit Eltern macht. Und nun liest man ständig diese Zahlen. Ein typischer Text sieht dann so aus:

»Etwa 40 Fälle von Toxoplasmose und Listeriose in der Schwangerschaft wurden dem Robert Koch-Institut im Jahr 2014 gemeldet. Das klingt bei rund 700.000 Geburten pro Jahr nicht viel, doch ist von einer Dunkelziffer auszugehen. Die Folgen für das Kind können schwerwiegend sein und sogar zu Früh- und Totgeburten führen.«

Was soll man als Elter aus diesen Zahlen ziehen? Abgesehen davon, dass man sich 40:700.000 einfach nicht vorstellen kann, ist jede Zahl größer 0 bei einer Gefahr in Angstfaktor.

Die Statistiken können heutzutage immer einfacher erhoben werden. Es gibt also mehr Zahlen als früher mit denen Eltern sich auseinandersetzen müssen. Überall, auf Broschüren, in Büchern, in Zeitungen, auf Webseiten, werden Zahlen angeführt.

Werbeprodukte

These 2: Werbung vermittelt permanent den Druck, größtmögliche Sicherheit fürs Kind zu gewährleisten. Eltern sind für diese Nachricht die perfekten Ziele. 

Ich erinnere mich an Sagrotan-Werbung im Fernsehen, in denen unterstrichen wurde, wie wichtig es ist, das Bad klinisch sauber zu halten, damit das Baby nicht Schaden nimmt. Denn Bakterien sind der Feind! Das war vor vielleicht 15 Jahren. Als ich mal mit fraumierau einer Messe für Kinderprodukte war, versuchte uns ein Verkäufer von einem Laufrad zu überzeugen, WO DER LENKER NICHT 360° GEDREHT WERDEN KANN, WEIL DAS SEI GEFÄHRLICH! Gott, ja! Wie haben Kinder das früher ausgehalten? Und dann muss alles BPA-frei sein und Kindersitze müssen Reboarder sein.

Wer genau hinsieht, sieht drei Kindersitze. fraumierau muss bald hinterm Auto herlaufen

Ich will gar nicht im Einzelnen notwendige Sicherheit in Abrede stellen. Aber die Werbebranche hat Sicherheit als Verkaufsargument für Eltern entdeckt. Permanent wird man mit der Information berieselt: Pass bloß auf Dein Kind auf! Das trifft auf ein offenes Ohr, denn als Elter ist man eh schon in der Situation, dass man ja nichts falsch machen möchte.

Einzelkinder

These 3: Besonders Familien mit Einzelkind neigen zu Helikopter-Verhalten, da ihnen mangels großfamiliären Strukturen die Erfahrungen aus dem direkten Umfeld fehlen. Weil Einzelkinder sehr verbreitet sind, steigt auch die Anzahl möglicher Helikopter-Eltern, da diese nun teils deutlich länger „helikoptern“ als früher. 

Vieles, was wir beim ersten Kind gemacht haben, haben wir bei den anderen Kindern nicht wiederholt. Man wird lockerer, wenn man mehr Kinder bekommt. Man hat oft genug gesehen, dass viele Gefahren vielleicht doch nicht so groß sind oder man damit eben umgehen muss. Und so richtig Zeit für eine permanente Hochsicherheitsstufe hat man eh nicht. Als Einzelkindeltern aber steht man oft ohne weitere Erfahrung da. Man wächst nicht mehr in Großfamilien auf, wo man im direkten Umfeld sieht, wie man Kindern umgegangen wird. Viele moderne Familien sind allein auf sich gestellt. Ein Grund übrigens für den Boom an Elternratgebern, -kursen und -blogs: Eltern kompensieren fehlende Familienstrukturen.

Dazu kommt, dass das Modell „ein Kind“ nun lange Zeit das typische war. Wie man mit zwei oder gar drei Kindern angesehen wird, habe ich vor einiger Zeit mal zusammengefasst.

Was kann man gegen das Helikoptern tun?

Ich glaube nicht, dass man etwas gegen das Helikoptern oder Helikopter-Eltern unternehmen sollte. Vor allem nicht, wie gerade der Spiegel, dazu aufrufen, Helikopter-Geschichten einzusenden, um Eltern vorzuführen. Statt dessen sollten wir überlegen, wie wir ein Umfeld schaffen, in dem Eltern nicht allein auf sich gestellt sind, sondern in einem Umfeld eingebettet, um losgelöst von Statistiken mehr Normalität zu erfahren. Und wir sollten weniger drauf anspringen, wenn uns die Werbebranche wieder Angst macht. Das ist leichter gesagt als getan. Aber jetzt ist es immerhin gesagt.

 

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14 Kommentare

Garfieldine · 13. Oktober 2017 um 7:58

Danke.

Hans-Georg · 13. Oktober 2017 um 9:32

Tja, ich weiß ja nicht, was ich von alldem halten soll, eigentlich eher nichts.
Unser Sohn ist inzwischen 36 Jahre alt, also geboren im Jahr 1980. Zur Vorbereitung der Geburt ist meine Frau zur „Schwangerngymnastik“ gegangen. Einen Elternkurs haben wir abgebrochen weil eine werdende Mutter erzählte, sie sei mit einem Zollstock bewaffnet losgegangen und habe die Innehöhe der Kinderwagen gemessen. Wir haben uns einen Kinderwagen ausgesucht, der uns gefiel – basta.
Wir haben keine „klugen“ Zeitschriften gekauft für Schwangerschaft und die ersten Monate, oder gar Jahre, danach. Meine Frau hat gegesssen was ihr schmeckt. Unser Sohn hat von Anfang an in seinem eigenen Zimmer geschlafen, welches sich in der 1. Etage unseres Hauses befand, während meine Frau unten „hausgehalten“ hat, während wir unten ferngesehen haben. Ob irgenwas laut oder hell war, war uns egal – und unserem Sohn auch.
Unser Sohn ging später allein zur Schule, später mit dem Fahrrad.
Heute ist er stolzer Papa von 2 reizenden Töchtern. Er hat beruflich einen sehr guten Weg gemacht, und ist, das wichtigste überhaupt, gesund, trotz all der „Gefahren“ denen wir ihn ausgesetzt haben.
Meine Meinung: Man kann getrost alle „guten“ Ratschläge vergessen.

Binette · 13. Oktober 2017 um 9:37

Ich denke, das Helikopterdasein, auch wenn es bis zu einem bestimmten Punkt seine Berechtigung hat, liegt auch an unserer egomanen Selfie-Gesellschaft,. Natürlich will man das Beste für sein Kind – die Menschheit vergisst aber immer mehr, dass wir schon immer in GRUPPEN lebten und das auch gut so ist. Wie manche Eltern nur um ihre eigenen Brut kreisen und kein Auge auf andere Kinder im Kindergarten/auf dem Spielplatz / auf der Straße werfen, finde ich eine krankhafte Erscheinung unserer Zeit. In so vielen Gesellschaften werden Kinder von Gruppen – ob es die Großfamilie, die Nachbarschaft oder das ganze Dorf ist – großgezogen und können sehr gut damit umgehen, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Stile mit ihnen fahren. Warum können wir nicht mehr darauf achten, dass das, was wir mit unseren Kindern tun, auch für andere Kinder passt? Ich finde es wichtig, neben Selbstständigkeit und eigener Willenskraft meinen Kindern auch zu vermitteln, dass sie gut in Menschengruppen zurecht kommen und dass das manchmal auch bedeutet, seine persönlichen Wünsche zurückzunehmen oder anzupassen. Mich stört also nicht das Helikoptern an sich, sondern die Tatsache, dass man nur um die eigenen Kinder helikoptert und dabei die anderen vollkommen ausblendet.

Aless · 13. Oktober 2017 um 10:00

Der Kommentar von Hans-Georg bestätigt meiner Meinung nach deinen Text.
Vor 36 Jahren war vieles anders mit der Elternschaft: Keiner wusste etwas über plötzlichen Kindstod – also hat auch keiner Panik geschoben, ob das Kind noch atmet. usw. usf.
Auch ich habe bei meinem ersten Kind Dinge gemacht, für die ich beim zweiten keine Zeit mehr hatte.
Wenn ich erzähle, dass mein Sohn jeden zweiten Tag ein frisches Veilchen hat, weil er sich stößt, gegen die Rutsche läuft, etc. erzählen mir Mehr-Kind-Eltern, dass ihre Kinder auch Kriegsverletzungen haben – Ein-Kind-Eltern werfen mir vor, 2 Kinder zu haben, wenn ich nicht auf beide Kinder adäquat aufpassen kann… 🙁

Madame FREUDig · 13. Oktober 2017 um 12:03

Ich danke dir für diesen Artikel!
Es ist absurd, wie mittels Spaltung Feindbilder erzeugt und gepflegt werden.
Durchaus schockierend finde ich allerdings die Kommentatoren unter dem Spiegelartikel: helikoptern ist scheinbar nämlich schon dann, wenn Eltern die emotionalen Belange nicht zur Abhärtung nutzen.
Tja, da muss man eben durch.

Lieschen Müller · 13. Oktober 2017 um 14:26

Wir neigen nicht zum Helikoptern, daher finde ich tatsächlich so manches Phänomen befremdlich. Trotzdem danke ich für diesen entspannteren Blick.

Was eine weitere Ursache des „Helikopterns“ sein könnte: das heutige Machbarkeitsdenken, was suggeriert, wir könnten auch jedes Risiko kontrollieren bzw. durch das richtige Verhalten unsererseits ausschalten. Oder die anderen könnten das. Und wenn dann etwas passiert, muss im Umkehrschluss auch jemand schuld gewesen sein.

Früher war die Akzeptanz dafür größer, dass eben Dinge auch mal passieren. Einfach so. Passierte meinen Kindern heute etwas, gäbe es vermutlich sehr viele, die sofort sehr genau wüssten, was wir Eltern falsch gemacht hätten. Es wird also auch eine ganz andere Herangehensweise von den Eltern und anderem Betreuungspersonal erwartet.

Und die gleichen Medien, die fröhliches Elternbashing betreiben, treiben dann die „Helikoptereltern“ als nächstes durchs Dorf.

Ich mag sehr „das Recht des Kindes auf seinen eigenen Tod“ von Janusz Korczak. Auch wenn ich bei der Formulierung jedes Mal schlucken muss und „aber, aber, aber…“ denke. Nein, ich mag es wohl genau deswegen.

Ellen · 14. Oktober 2017 um 1:52

Natürlich möchte jeder das Beste für sein Kind. Aber was genau ist denn dieses „Beste“? Möglichst wenig blaue Flecke? Die Welt als individuell maximierte Nutzermatrix? Das kann es doch nicht sein. Der Mensch hat sich absichtlich in Gruppen zusammengefunden, da er dort Überlebensvorteile genießt, die er als Individuum nicht wahrnehmen könnte.

Zu allererst mal geht es doch darum, ein Kind zu befähigen, für sich selbst die richtigen Entscheidungen zu treffen – was auch beinhaltet, nicht alle Entscheidungen für das Kind zu treffen, sondern nur das Umfeld zu schaffen, in dem es (entwicklungsgerecht) möglichst frei wählen kann. Das bedeutet z.B. auch: ein verträgliches Sozialverhalten zu fördern, damit das Kind die Möglichkeit hat, selbstischer in und aus Gruppen heraus interagieren zu können. Oder selbstständiges Verhalten und die Fähigkeit zum Einschätzen von Risiken zu fördern, auch und gerade zu Lasten punktueller individueller Sicherheit (Beispiel: Schubladen öffnen und schließen – vormachen, dann nachmachen lassen, auf die Gefahr eingeklemmter Finger hin. Es entsteht kein bleibender Schaden, Risiko kann also eingegangen werden. Kind lernt Abläufe, Risikoeinschätzung, Schmerzmanagement (Hilfe holen/Hilfe zulassen/Hilfe angeboten bekommen/Aushalten/Schmerz „überleben“), Selbstvertrauen, etc.).

Dass Helikoptereltern eben dies auch nicht gelernt zu haben scheinen, ist bezeichnend und Signal für ein viel tieferliegendes gesellschaftliches Problem:

Wenn Erwachsene mit Statistiken überfordert sind, sprich, Ängste, Risiken und Gefahren nicht mehr real einschätzen können, haben wir ein Problem, dass sich heute auch gern in Fake-News-Hörigkeit und Totemglaube an die verschiedensten Dinge niederschlägt und letztlich dazu führt, dass Leute sich ihr Leben von Ängsten diktieren lassen. Solche Menschen sind dann leicht zu (ver)führen.

Wenn Menschen aufwachsen ohne zu lernen, wie Dinge und Prozesse/Ablaufe funktionieren, dass man alles, was man zu wissen glaubt (sic!) immer wieder auf den Prüfstand heben, aber auch selbstsicher eine eigene Meinung aus unterschiedlichen Quellen bilden und vertreten, sprich, dafür argumentieren können sollte, dann ist unsere Gesellschaft bald nicht mehr viel wert und auch die Konzentration darauf, dem eigenen Kind jeden angenehmen und unangenehmen Denk- und Erfahrungsprozess zu „ersparen“/vorzuenthalten, wird unsere Kinder – individuell und gesamtgesellschaftlich gesehen – nicht vor Gefahren schützen, sondern sie erst genau den Risiken aussetzen, dass wir durch solches Verhalten dringend vermeiden wollen.

Früher gab es also weniger Statistiken und wir mussten weniger Angst „haben“? Nein. Eine Statistik zwingt uns zu gar nichts, erst recht nicht zum Angsthaben. Wir haben verlernt, wie man mit von außen an einen herangetragenen oder hausgemachten Ängsten adäquat umgeht – die kann auch nämlich auch einfach mal liegenlassen, nachdem man sich die Quellen zu Gemüte geführt und einen Überblick verschafft hat.

Zum Erwachsensensein gehören vor allem drei Dinge:

– Risiken einzuschätzen und

– selbstsicher und gern Entscheidungen zu treffen (dass wir das frei können, ist ein Privileg und sollte entsprechend geschätzt werden!)

– mit den Dualitäten (oder mehr) des Lebens, z.B. der ständig immanenten Todesmöglichkeit bei gleichzeitiger hoffnungsfroher Zukunftsgestaltung umzugehen lernen

Wenn man also erst mit Ankunft des ersten Kindes langsam erwachsen wird, sollte man sich die Zeit nehmen, in diese Dinge hineinzuwachsen – sich selbst, aber auch dem Kind zuliebe. Damit entfallen dann auch viele Gadgetkäufe.

P.S.: Eltern-Bashing sollte man sich trotzdem sparen und lieber Hilfestellung geben/mit gutem Beispiel vorangehen.

u_blues · 14. Oktober 2017 um 10:46

Danke für den schönen Text! Bashing ist in der Tat immer einfach, der hämische Zeigefinger schnell dabei – dabei wären nüchterne, sachliche Infos und ein helfendes Miteinandern tatsächlich viel hilfreicher (aber das bringt natürlich nicht so viele Leser)…

Viele der genannten Beispiele fallen für mich übrigens gar nicht unter „helikoptern“, sondern schlicht unter gesundes Risikobewusstsein. Aufklärung und Statistiken sind an sich finde ich erstmal nichts Böses – was man mit den Infos macht, ist entscheidend. Beispiel plötzlicher Kindstod: Seitdem mehr Leute darüber Bescheid wissen und die gängigen Empfehlungen einhalten, sind die Fallzahlen drastisch gesunken: aktuell sterben 230 Kinder pro Jahr daran in Deutschland; 1990 waren es noch 1300. Und alles nur mit so simplen Maßnahmen wie nicht in der Wohnung zu rauchen, das Kind zum Schlafen auf den Rücken zu legen, Schlafsack statt Decken zu verwenden und für eine gute Belüftung zu sorgen. Das als „helikoptern“ zu bezeichnen ist meiner Meinung nach genauso dämlich wie wenn ich es als „helikoptern“ bezeichnen würde, wenn ich meinem Kind zum Radfahren einen Helm aufsetze.

Was mich hingegen immer wieder ärgert ist unbegründete Panikmache, für die es null Grundlage gibt. In meinem Geburtsvorbereitungskurs wurde uns tatsächlich eingetrichtert, dass wir auf gar keinen Fall irgendwas mit Zimt essen dürften, denn das könne Wehen auslösen (über den esoterischen Bullshit, der gerne von Hebammen verbreitet wird könnte ich mich auch hier in Rage schreiben, aber das wäre am Thema vorbei). Ich hab das dann mal gegoogelt und herausgefunden, dass es eine Studie an Ratten gab, die tatsächlich nach der Gabe hoher Mengen Zimt ein erhöhtes Fehlgeburtsrisiko hat. Die Menge auf den Menschen umgerechnet entspräche 9 Esslöffeln Zimt am Tag (!). Da ist es als Jungeltern tatsächlich nicht so einfach, sich nicht komplett irre machen zu lassen. Wenn dann auf der anderen Seite so gerne gebasht wird gegen die übervorsichtigen Helikoptereltern, finde ich das tatsächlich auch unfair.

Mir persönlich hilft es übrigens, mir Statistiken anzuschauen und die Risiken nochmal selber nach Eintrittswahrscheinlichkeit und dem Schaden zu bewerten. Beispiel: Wohnung „kindersicher“ machen. Es ist nicht tragisch, wenn ein Kind mal ein Regal leerräumt wenn keine verschluckbaren Kleinteile dort gelagert sind; auch ein Fingerchen, das man in der Schublade klemmt ist meistens eher nur ein fieses Aua und nicht mehr (und beinhaltet dann hoffentlich auch einen Lerneffekt, genau wie Ellen es geschrieben hat).

Folglich werden wir die für ein Kleinkind zugänglichen Schubladen erstmal nicht mit Kindersicherungen versehen, sondern nur das potentiell gefährliche Zeug (Kleinteile, Putzmittel) woanders lagern. Anders sieht es z.B. beim Wasserkocher aus. Mehrere tausend (!) schwere Verbrühungen bei Kleinkindern pro Jahr in Deutschland sind genug Warnung, einen Wasserkocher so zu platzieren, dass ein Kind nicht am Kabel ziehen und im schlimmsten Fall den kompletten Inhalt abbekommen kann – da reicht einmal nicht aufgepasst und die Folgen können dramatisch sein. Hier sind die harten Fallzahlen meiner Meinung nach wirklich gut um heraus zu finden, worüber man sich wirklich mal Gedanken machen soll (wie z.B. Verbrühungen und Vergiftungen) , was ziemlich unwahrscheinlich ist (Schäden durch Listerien oder Toxoplasmose) und was totaler Quatsch (Frühgeburt weil man Apfelkuchen mit Zimt gegessen hat).

Das „aber früher haben die Kinder das auch überlebt“ Argument geht mir persönlich übrigens echt auf den Keks. Denn zu viele Kinder haben es früher eben NICHT überlebt – weil sie am plötzlichen Kindstod gestorben sind, ungesicherte Treppen runtergestürzt sind, im Auto nicht richtig gesichert waren, etc.

Klar kann man sein Kind nicht vor allem Schaden bewahren. Aber tödliche Risiken minimieren, denen es beim Entdecken seiner Umwelt begegnet hat doch nix mit helikoptern zu tun. Um bei dem Beispiel mit dem Helm zu bleiben: Helikoptern wäre für mich klassischerweise, dem Kind aus lauter Angst zu verbieten mit dem Rad zu Schule zu fahren und es stattdessen noch selber bis ins Klassenzimmer zu bringen. Das Kind nach Üben des Weges mit dem Rad fahren zu lassen, aber mit Helm hingegen nicht.

Im skandinavischen Sprachgebrauch sagt man übrigens „Curling-Eltern“ statt „Helikopter-Eltern“, was ich vom Bild her noch treffender finde 😉 Und wie panisch ist als spätgebärende Erstmutter dann selber sein werde, weiß ich frühestens in zwei Monaten 😀

    Ellen · 16. Oktober 2017 um 19:46

    Danke, die Praxisbeispiele sind super! Genau diese kritische, aber informierte Auseinandersetzung mit den sogenannten „urbanen Legenden“ rund um Schwangerschaft und Elternsein meine ich. Ganz früh habe ich den tollen Tipp bekommen, Gefahren nach der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens und Art des zu erwartenden Schadens (bleibend, schwerwiegend aber heilbar oder kurzes Aua, etc.) zu bewerten, das hilft, finde ich, ungemein. Es ist jetzt nicht so, dass mein Kind täglich mit dem Fleischwolf spielt und ich daneben sitze und klatsche, beileibe nicht – anfangs wollte ich mein Kind nichtmal aus dem Arm geben und hätte jeden, Arzt oder Schweste,r fast attackiert – aber ich denke, bevor man alle fünf Minuten einen Herzinfarkt bekommt, weil das Kind sich – Gott bewahre! – Sand in den Mund gesteckt hat, oder man herausbekommt, dass in dem Kuchen von Tante Gertrud leider doch ein halber Teelöffel Zimt war, lieber mal an den eigene Ängsten arbeiten. Genauso wichtig finde ich es aber auch, den Vorkehrungen gegen den plötzlichen Kindstod genau zu folgen, denn wie Du so schön beschrieben hast, kann dabei mit einfachsten Maßnahmen das Schlimmste verhindert werden. Informationen (und die Bereitschaft, sich mit ihnen auseinanderzusetzen) sind bei diesen Entscheidungen wichtig. Hinzufügen möchte ich noch: Informationen über das eigene Kind natürlich auch – wenn ich mein Kind aufmerksam beobachte und gut kenne, weiß ich meist auch ganz gut, was ich ihm zutrauen kann und was nicht. Jedes Kind ist ja anders. Na, Du wirkst gut vorbereitet 🙂 Alles Gute für die erste Zeit!

Viermalmeins · 16. Oktober 2017 um 10:37

Janein. Helikopter-Eltern zu sein, wenn man diese Rolle gerade frisch und ohne Erfahrung ausfüllen muss, das ist evolutionär sicher genau richtig von wegen der Sicherheit der Sprösslinge usw., wie du alles sagtest. Was da jeder für sich annimmt an Werbung und „Ratschlägen“, ist ja typabhängig höchst unterschiedlich – und war zumindest rückblickend sehr unterhaltsam ?
Worum es aber m.E. in Geschichten wie der vom Spiegel (und vielen anderen Bashings) geht, sind die Bitte-Klassenarbeit-für-Geburtstag-verschieben-Eltern und die, die ihren längst großen Kindern nicht das kleinste bisschen Selbstständigkeit zutrauen. Das hat mit den Gefahren der Welt ja nicht mehr so viel zu tun.

Elter · 16. Oktober 2017 um 21:28

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Key · 21. Oktober 2017 um 22:23

Helikoptern ist doch out-schreib mal über curling Eltern…

Cleo08 · 10. November 2017 um 16:38

ich finde man muss unterscheiden zwischen Helikoptereltern und Eltern die sich kümmern.

Beispiel auf eine Kinderfreizeit wo ich als Betreueron mit war war ein Kind dabei die Bluterin ist. Die Mutter hat uns erklärt was gemacht werden muss wenn das Kind blutet und uns gesagt wenn es schlimm wird muss beim Anruf der 112 gesagt werden das Kind ist Bluterin in dem Krankenhaus liegt ne Blutreserve der behandelnde Arzt ist xy.

Andere Mutter wollte wissen wann Abendbrot gegessen würde. Auf die Antwort 18 Uhr hieß es das ginge nicht weil das Kind immer um 20 Uhr Essen würde und dann würde es ja nachts hungrig aufwachen.
was es natürlich nicht ist.

Erstes Verhalten ist eine Mutter die einem kranken Kind ermöglicht eine normale Kindheit zu haben und sicherstellen muss dass die Betreuer im Ernstfall wissen was zu tun ist.
2. Verhalten sind Helikoptereltern.

WOTA · 16. Dezember 2017 um 16:05

U_blues hat es schon geschrieben. Und ich finde auch, dass Du da, etwas verwechselst. Helikoptern ist ein überbehüten. Also nicht Fahrradfahren lassen aus Angst, dass etwas passieren kann. Oder dieses schreckliche zur Schule-hinkutschieren.

Das was Du anführst, ist neues Wissen: dass die Rückenlage und Nichtrauchen und mit Eltern im selben Zimmer schlafen zu einem deutlichen Rückgang des Plötzlichen Kindstod geführt hat.
Dass die Verletzungsquote sprunghaft ansteigt, wenn der Kindersitz vorwärts gerichtet ist (in Skandinavien gibt es Reboarder, und guck da mal die Statistik an).
Dass Rohmilchprodukte etc Listeriose und Toxoplasmose verursachen können. Die Mutter einer Freundin hatte das in ihrer Schwangerschaft und das Kind hat davon lebenslange Schäden erhalten.

Warum sollte man dieses Wissen nicht nutzen? Für mich hat das eher mich Fürsorge zu tun.
Da kann ich nichts mit helikoptern dran finden.

Eher, dass die Kinder nicht mehr zur Schule laufen und überall diese Panzer gekauft werden (die Fussgänger und Fahrradfahrer sind nicht so aufgerüstet).

Und auch dieses ganze Theater mit Give-aways beim Kindergeburtstag und diese überdimensionalen Nikolaus – und Ostergeschenke…. Das ist so ne Spirale, die ich nicht mitmache.
Und anstatt die Helikopteeltern zu bashen, kann man vorleben, wie es auch anders geht. Dass der Nikolaus kein Laufrad, sondern nur ein paar Süßigkeiten bringt.
Dass man mit dem Kind zum Kindergarten radelt, laufradelt, rollert, läuft.

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